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WAZ 03.06.04
WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG vom 03. Juni 2004
Das Ritual der Verstümmelung
Von Renate Dobratz
"Als die Narkose nachließ war
Urinieren die Hölle", erzählt
Jawahir Cumar von ihrer eigenen
Beschneidung. Mit fünf Jahren
lebte sie noch in ihrem
Heimatland Somalia und hatte
Glück, dass sie in einem
Krankenhaus operiert wurde -
andere Beschneiderinnen
nehmen einfach die Rasierklinge.
Aber die Schmerzen waren auch bei Jawahir danach unerträglich: "Es
ist, als hätte man eine Wunde und da kommt Zitrone rein".
Heute lebt die 27-Jährige mit drei Kindern in Düsseldorf und organisiert
den Verein "Stop Mutilation". Sie hört von Beschneidungen afrikanischer
Mädchen in Deutschland, Betroffene kommen mit Fragen zu ihr.
Meistens erfährt sie von einer Beschneidung aber erst, wenn sie schon
passiert ist.
Deshalb klärt Jawahir Cumar auf, wo sie kann, geht in Schulen und
spricht mit Erzieherinnen, die vielleicht noch etwas verhindern können.
30 000 Frauen und Mädchen, so schätzen Fachorganisationen, leben in
Deutschland und sind beschnitten oder von Beschneidung bedroht.
Meistens wird das grausame Ritual an Mädchen im Alter zwischen vier
und acht Jahren vollzogen, die nicht wissen, was mit ihnen passiert und
sich nicht wehren können.
Weil es hierzulande als schwere Körperverletzung und
Kindesmisshandlung geahndet wird, geschieht es heimlich, hier oder in
den Ferien im Heimatland - unter abenteuerlichen hygienischen
Bedingungen. Den Mädchen werden die äußeren Genitalien entfernt,
bei der schlimmsten Form, der "pharaonischen Beschneidung",
anschließend die Vagina bis auf eine winzige Öffnung vernäht.
"Mit 14 bekam ich im Sportunterricht hohes Fieber und wurde
ohnmächtig", erzählt Jawahir Cumar: Sie bekam das ersten Mal ihre
Tage, als sie schon längst in Deutschland zur Schule ging. Im
Krankenhaus stellte sich heraus, dass sich die Blutung gestaut hatte.
"Der Arzt konnte mich nicht normal untersuchen. Er kannte so etwas gar
nicht".
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine tief verwurzelte Tradition, der
sich die meist afrikanisch-stämmigen Familien verpflichtet fühlen. In
Ägypten wird sie noch bei über 90 Prozent aller Mädchen praktiziert.
Anders bekommen die Töchter später keinen Mann, sagen Großmütter
und Eltern. Beschneidung schütze die Mädchen bis zur Ehe vor
Entjungferung, die Fruchtbarkeit werde erhöht, nur eine beschnittene
Frau sei rein. In Wirklichkeit ist Beschneidung eine antiquierte Methode
zur Unterdrückung der Frau.
In Vereinen wie "Stop Mutilation" haben sich Frauen in Deutschland
zusammengetan, um über das unnötige Ritual aufzuklären und sich für
klare gesetzliche Regelungen einzusetzen. Weil die Unwissenheit auch
bei Medizinern so groß ist, hat Aktion "Weißes Friedensband"
zusammen mit anderen deutschen Fachorganisationen die bundesweite
Initiative "Nein zur Beschneidung von Mädchen" gestartet. Sie wendet
sich damit in erster Linie an Ärzte, aber auch an Schulen und
Kindergärten: Jugendliche, Frauen und Mädchen werden dazu
aufgerufen, ihren Ärzten eine medizinische Fachinformation und einen
Fragebogen selbst in die Hand zu drücken. "Auf diese Weise erreichen
wir", erklärt Jeanette Zachäus von Aktion Weißes Friedensband, "dass
sich die Menschen in Deutschland mit der Situation der betroffenen
Mädchen auseinander setzen."
Der Verein hilft bei der Erstellung einer Ärzteliste in Deutschland, an die
sich von weiblicher Beschneidung Betroffene wenden können, schlägt
Vorgehensweisen für den sensiblen Umgang mit dem Thema im
Unterricht vor und vermittelt Referentinnen wie Jawahir Cumar.
Mädchen, die unmittelbar von Beschneidung bedroht sind, sollen
wissen, wo sie in ihrem persönlichen Umkreis Hilfe finden.
Jawahir Cumar empfindet Wut, wenn sie an ihre eigene Beschneidung
denkt. Wut gegenüber ihrer Mutter: Der Vater sei damals dagegen
gewesen, wurde aber gar nicht gefragt. Dass Mutter und Großmutter
darauf bestanden hatten, zeigt, wie tief die Tradition sich in den Köpfen
der Opfer verselbstständigt hat. Regelmäßig fährt Cumar deshalb nach
Somalia, um über den gesundheitlichen Unsinn der Beschneidung
aufzuklären.
Auf Widerstand stößt sie nur noch bei den Älteren: "Wenn man Männer
unter 30 fragt, will keiner mehr eine beschnittene Frau haben."
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